Der Weg - Das Leben neu entdecken – Jenna

Nach den harten Tagen muss ich lange geschlafen haben. Das letzte woran ich mich erinnere, sind die wütenden Menschenmasse vor denen ich mich im letzten Moment verstecken konnte und jetzt ist alles ruhig.
Einmal die Arme ausstrecken, die fühlen sich so steif an. „Sie wird wach, sie wird wirklich wieder wach.“ Das ist die Stimme meines Mannes, wie er mich wohl gefunden hat. Ich öffne meine Augen, ja das ist Darius. Wie alt er aussieht. Ich spreche seinen Namen aus – aber es kommt nur ein Röcheln. Da nehme ich erst wahr, wo ich bin, es sieht nach einem Krankenhaus aus – und doch habe ich so ein Zimmer noch nie gesehen. Eine fremde Frau kommt auf mich zu.
„Hallo Frau Storrbold, es muss für Sie alles etwas verwirrend sein. Sie haben lange geschlafen. Deshalb mussten wir einen Zugang über Ihren Mund legen. Den werde ich gleich entfernen. Ihr Mann wird ihnen jetzt erst mal einiges erklären.“
Was redet die Frau. Lange geschlafen, wie lange soll das denn wohl gewesen sein. Ich verstehe nicht wirklich, was sie da erzählt hat. Darius greift meine Hand. Er sieht wirklich alt aus. Jetzt lächelt er. Wie kann er überhaupt hier sein.
„Liebling, ich habe immer geglaubt, dass du wieder wach wirst. So feste, dass ich nicht erlaubt habe die Geräte abzuschalten.“
Von welchen Geräten redet er, ich sehe keine.
„Weißt du Jenna, meine Schatz ich dachte, wir hätten dich verloren. Damals hat dich dein Bruder George gefunden. Mehr tot als lebendig. Du hast aber immer weitergeatmet und nach einigen Tagen hatten sich die schlimmsten Schlachten beruhigt und wir konnten dich endlich in ein Gesundheitshaus bringen. Keiner hat dir eine Chance gegeben, aber es war die ganzen Jahre immer“
Ich bäumte mich auf – Jahre, wie viele Jahre lag ich wohl hier. War Darius so alt wie er aussah.
Darius legt beruhigend seine Hand auf meine Schulter. Ich atme etwas leichter. „Also die ganzen Jahre war jeden Tag einer von der Familie bei dir. Deine und meine Geschwister, unsere Kinder und alle Freunde und Bekannte. Jeder hat für dich gesorgt und wir alle haben nie die Hoffnung aufgegeben.“
Darius weint – aber das müssen wohl Freudentränen sein, denn er lächelt. Die fremde Frau schaut mich an.
„Kann ich jetzt Ihren Mund freimachen. Nicken Sie, wenn es für Sie OK ist!“
Ich nicke, wie soll ich sonst sprechen können. Es ist unangenehm, als sie den Schlauch aus dem Hals zieht. Der Hals fühlt sich irgendwie rau an. Ob ich wohl sprechen darf, die Frau nickt, als ob sie mich verstanden hat.
„Darius“ so ist der Gedanke in meinem Kopf geformt, was da aus meinem Mund rauskommt ist aber nur ein Röcheln.
„Das wird wieder, das wird wieder, wir müssen nur etwas Geduld haben“.
An diesem Tag, dem ersten Tag meines wiedergefundenen Lebens, fühle ich mich überfordert von den Gedanken. Darius sagt mir, dass ich fast zwanzig Jahre im Koma lag. Zwanzig Jahre – ich war gerade Anfang dreißig als ich ins Koma gefallen war und nun hatte ich meinen fünfzigsten Geburtstag verschlafen. Meine Kinder kommen gleich, ob ich sie wohl erkennen werde. Meine kleine Lucky, mein kleiner Finn und Baby Will. Fast zwanzig Jahre, die Kinder sind erwachsen.
Darius strahlt die drei jungen Menschen in der Tür an.
Sind das die Kinder. Da sind sie alle bei mir. Sie sagen „Mama“ und sie weinen. Sie sehen gut aus, gesund und gar nicht abgehetzt. Was in den zwanzig Jahren wohl alles passiert ist. Alle drei leben, Darius hat sie groß bekommen. Wie das nur möglich ist?
Zwei Wochen später
Ich bin im Heilungshaus. Die Welt wurde umbenannt – so viel habe ich begriffen. Sprechen kann ich auch wieder, langsam und leise, aber es geht. Auch mit dem Gehen klappt es, seit einer Woche halten mich meine Beine wieder. Ein gutes Gefühl. Als ich in den Spiegel schauen durfte, habe ich mich erschrocken. Auch ich war älter geworden. Ganz langsam begriff ich persönliche Dimension.
Meine Eltern und auch Darius Eltern lebten nicht mehr. Meine Mutter war bis vor einem Jahr noch fast täglich bei mir gewesen und war auch neben meinem Bett gestorben. Wie sehr ich sie vermisste.
Heute holt mich meine Familie ab und ich werde das erste Mal die neue Welt sehen. In den Gesprächen der letzten Tage hat Darius und auch meine Geschwister mir viel erklärt. Er sagt, es ist ein gutes Leben, ein Leben ohne Angst. Ein Leben, für das es sich zu Leben lohnt.
Vier Wochen später
Zwanzig Jahre, wow. Ich gehe mit meiner erwachsenen Tochter in die Gemeinschaft. Es gibt Menschen, die mich noch von früher kennen, Menschen, die meine Familie die ganzen Jahre unterstützt haben und alle diese Menschen kommen auf mich zu.
Immer mit einer Geste, ob es recht ist. Darius hat es so mit den Leuten ausgemacht, damit ich nicht überfordert werde. Und wenn ich mit wem keinen Kontakt in dem Moment möchte, ist es auch gut.
Sie lächeln mich an und sagen „Bis später, lasse dir Zeit“.
Lucky strahlt. Sie hat mir gesagt, dass der Papa immer davon überzeugt war, dass ich aufwache „Denn du bist einer der Menschen, der den letzten Impuls gab.“
Damals war ich für das Anzünden des Feuerstapels zuständig gewesen. Dadurch sollten die Menschenmassen aus der Stadt geleitet werden. Diese Menschen hatten sich von überall zusammengerauft, weil es einfach zu wenig zum Essen gab. Und wir hatten auch zu wenig.
„Mama, als sie dich dann gefunden hatten, da ging ein Ruck durch die Menschen – die Fremden und die Einheimische – so ging es nicht weiter. Papa hat sich mit den andern zusammengetan. Die Großeltern haben in der Zeit auf uns aufgepasst. Und gemeinsam haben die Erwachsenen beschlossen, dass jetzt gemeinsame Sache gemacht wird. Die Regierenden und Mächtigen wollten die Forderungen erst nicht akzeptieren! Da die meisten Menschen einfach nur satt zu essen und ein friedliches Leben wollten, waren diese erstens in der Überzahl und zweitens nicht mehr bereit für das tolle Leben einiger weniger immer am Existenzminimum zu leben.“
Es ist wirklich ein gutes Leben. Meine letzten Erinnerungen an früher war immer die Sorge, wie ich die Kinder satt bekomme. Wir gehen jetzt zum gemeinsamen Garten und wenn wir wollen, gibt es in der Gemeinschaftsküche einfach was zu essen.
Will hatte mir erklärt, dass jeder seinen Beitrag leistet in den ganz verschiedenen Bereichen. Und so werden alle satt.
Mein Baby ist auch erwachsen. Ich habe mir die Bilder angesehen von meinen Kindern, wie sie immer größer wurden. Und immer freudevoller. Alle haben sich gekümmert, sie sind bei mir gewesen und habe mir Geschichten erzählt. Die Geburtstage wurden nach und nach immer schöner. Denn es wurde nach dem Bau der Gemeinschaftsküche immer dort gefeiert, mit allen, die auch Geburtstag haben.
Einige Dinge sind so anders, dass ich diese noch nicht begreife – aber das verlangt auch keiner von mir. Darius sagt ganz klar, ich habe mindestens noch ein halbes Jahr Zeit, bevor ich mir Gedanken machen sollte, was ich den für die Gemeinschaft beitragen möchte. Aber bei einigen Dingen juckt es mich in den Fingern. Und ich darf mich auf diese Dinge freuen, denn „Jeder darf das machen, worauf er Lust hat, wenn es für die Gemeinschaft gut ist!“.
Ein Jahr nach dem Aufwachen
Heute gehen wir alle gemeinsam zum Gesundheitshaus. Dort, wo ich viele Jahre gelegen habe. Mir geht es gut, meine Kräfte sind wieder gekommen – natürlich nicht mehr so, wie vor zwanzig Jahren, aber so, dass ich alles was ich mag erledigen kann.
Bisher habe ich mich noch nicht entschieden, was ich auf Dauer machen möchte. Ich habe aber schon in ganz viele Bereiche reingeschnuppert. Und so viele Dinge machen Spaß. Damals hatte ich keine Zeit dazu. Wenn ich heute zu wenige Stunden habe, dann gehe ich in die Küche und trage mich dort ein, oder ich betreue die Ziegenherde oder ich bügle die Wäsche.
Es war ein kleines Wunder das ich wieder aufgewacht bin – das größte Wunder ist für mich, dass es wirklich ein gutes Leben ist.

 

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